Gute-Nacht-Geschichten

Bei meiner lieben Frau und mir hat sich eine schöne Gewohnheit entwickelt: Wenn wir abends ins Bett gehen, lese ich ihr vor dem einschlafen immer noch ein, zwei Gedichte als Gute-Nacht-Geschichte vor. Ich muss sagen, dass mir dieses Ritual in der Zeit, als ich im Projekt in Wiesbaden war, sehr gefehlt hat.

Das Letzte Buch mit Gedichten war eins von Christian Morgenstern. Ich möchte euch hier zwei meiner Lieblingsgedichte von Morgenstern nicht vorenthalten:

Der Werwolf
Ein Werwolf eines Nachts entwich
von Weib und Kind und sich begab
an eines Dorfschullehrers Grab
und bat ihn: Bitte, beuge mich!

Der Dorfschulmeister stieg hinauf
auf seines Blechschilds Messingknauf
und sprach zum Wolf, der seine Pfoten
geduldig kreuzte vor dem Toten:

"Der Werwolf" – sprach der gute Mann,
"des Weswolfs, Genitiv sodann,
dem Wemwolf, Dativ, wie man’s nennt,
den Wenwolf, – damit hat’s ein End."

Dem Werwolf schmeichelten die Fälle,
er rollte seine Augenbälle.
Indessen, bat er, füge doch
zur Einzahl auch die Mehrzahl noch!

Der Dorfschulmeister aber musste
gestehn, dass er von ihr nichts wusste,
Zwar Wölfe gäb’s in grosser Schar,
doch "Wer" gäb’s nur im Sigular.

Der Wolf erhob sich tränenblind –
er hatte ja doch Weib und Kind!!
Doch da er kein Gelehrter eben,
so schied er dankend und ergeben.

Der Lattenzaun

Es war einmal ein Lattenzaun,
mit Zwischenraum, hindurchzuschaun.

Ein Architekt, der dieses sah,
stand eines Abends plötzlich da –

und nahm den Zwischenraum heraus
und baute draus ein großes Haus.

Der Zaun indessen stand ganz dumm,
mit Latten ohne was herum,

Ein Anblick gräßlich und gemein.
Drum zog ihn der Senat auch ein.

Der Architekt jedoch entfloh
nach Afri- od- Ameriko.

Das Buch von Christian Morgenstern haben wir jetzt durch. Im Moment lese ich aus einer Sammlung von Joachim Ringelnatz vor. Wenn wir das durch haben, werde ich meine Favoriten von ihm vorstellen.